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„Man merkt, dass man etwas bewirkt mit seinem Handeln“: PHODIO aus Sachsen-Anhalt

An einem Freitagmittag Ende September 2022 sitzen Hannes Doppelheuer, 17 Jahre, und Tilman Hesselbach, 20 Jahre, im Fallstein-Gymnasium Osterwieck in Sachsen-Anhalt zusammen. Hannes ist als Abteilungsleiter Technik Teil der Schüler:innenfirma Phodio, Tilman war es lange Zeit und studiert mittlerweile Chemie und Englisch auf Lehramt in Leipzig. Er ist für ein Praktikum zurückgekehrt an seine alte Schule. Eigentlich findet die Phodio-Teamsitzung montags zwischen 13:15 und 14:45 Uhr statt. Heute aber soll es nicht ums Tagesgeschäft gehen. Der Blick geht zurück auf ihre Zeit in der Schüler:innenfirma. Mit am Tisch sitzt Marcel Krumbholz, der die Phodio vonseiten der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS) betreut.

Wofür steht der Name „Phodio“?

Tilman Hesselbach (TH): Es ist ein zusammengesetztes Wort aus Photo und Video. Tatsächlich aber macht die Phodio viel mehr. Unser Shop kümmert sich um das Schulmerchandise, die Technikabteilung verantwortet in erster Linie die Tontechnik in der Schulaula und bei externen Veranstaltungen. Die Videoabteilung macht Filme, Print erstellt Flyer und alle möglichen Druckprodukte.

Wie genau ist diese Aufteilung entstanden?

TH: Unsere Schüler:innenfirma orientiert sich am Bedarf der Schule und passt sich der Entwicklung an. Flyer für Veranstaltungen etwa braucht es in einer Schule immer mal wieder, Schulmerchandise ebenfalls. Die Technik in der Aula sollte auch jemand beherrschen, wenn es interne oder externe Veranstaltungen gibt.

Hannes Doppelheuer (HD): Jede Abteilung hat auch Kund:innen, mit denen sie außerhalb des Schulalltags zusammenarbeiten. Eine Musikschule veranstaltet ein paar Mal im Jahr ein Konzert in der Aula. Dabei ist die Phodio für die Technik zuständig. Wenn die Grundschule im Ort Einschulung feiert, kümmert sich unsere Videoabteilung um den dazugehörigen Film.

Die Phodio gehört zu den Wahlpflichtfächern, die ab der 9. Klasse gewählt werden können. Was hat euch motiviert, bei der Phodio mitzumachen?

HD: Statt der Schüler:innenfirma hätte man auch Wirtschaft, Technik, Kunst/Kultur oder Latein belegen können. Wir sind im Grunde ein praktischer Wirtschaftskurs. Bei mir war es so: Mein älterer Bruder war schon in der gleichen Abteilung, in der ich jetzt bin. Er hat sich auch sehr gut mit Tilman verstanden. Mir hat dieses Gefühl gefallen, in einer Firma gemeinsam zu arbeiten; einen Ausblick auf das Berufsleben zu bekommen. Vor allem der praktische Aspekt hat mich gereizt. Die anderen Wahlmöglichkeiten sind eher theoretischer Natur.

TH: Ich kannte mich schon ein bisschen mit Tontechnik aus, weil ich selbst ein paar Jahre im Chor gesungen habe und daher immer wieder Berührungspunkte hatte. Ich fand immer beeindruckend, wie die Techniker im Hintergrund bei Konzerten herumgewuselt haben. Als es dann hieß, dass bei der Phodio noch Leute fehlten, habe ich mitgemacht. Eine Schüler:innenfirma ist so auch ein Ort, den eigenen Neigungen und Leidenschaften nachzugehen.

© Jörg Farys / DKJS

Autorität durch Wissensvorsprung

Was ist der größte Unterschied zwischen der Schüler:innenfirma und einem „normalen“ Schulfach, wie etwa Mathematik? Wie unterscheidet sich die Art des Unterrichts?

HD: Bei der Phodio geben wir das gesamte Wissen untereinander  weiter. Jeder von uns hat sich schon mal in einem Unterrichtsfach gelangweilt. Aus dieser Erfahrung versuchen wir zu lernen und selbst mit möglichst praktischen und verständlichen Beispielen zu arbeiten. Gleichzeitig gibt es nicht so ein Machtgefälle wie zwischen Lehrkräften und Schülerschaft. Es ist Unterricht auf Augenhöhe, der zudem sehr praktisch angelegt ist.

Gibt es besondere Konflikte oder Herausforderungen beim Thema Autorität, wenn man auf dieser Ebene miteinander arbeitet?

TH: Autorität entwickelt sich aus Wissensvorsprung. Das ist bei der Lehrer:innenschaft genauso. Eine Lehrkraft besitzt Autorität wegen ihres Amtes, aber auch wegen des Wissensvorsprungs. Den haben die Älteren gegenüber den Jüngeren bei der Phodio auch. Zudem gibt es Abteilungsleiter:innen, die auch qua Amt eine Autorität vom Lehrenden übertragen bekommen. Das funktioniert ganz gut.

Inwieweit ist es ein Vorteil, das Wissen innerhalb der Schüler:innenschaft weiterzugeben?

TH: Wir bewegen uns in ähnlichen Kommunikationsmustern, sprechen ähnlich und haben vergleichbare Lebensrealitäten. Deswegen weiß man auch, wie man aufeinander eingehen kann; was der andere oder die andere braucht. Man ist noch eher in der Lage, sich in das Gegenüber reinzuversetzen und sich zu fragen: Wie würde ich das jetzt wahrnehmen?

© Jörg Farys / DKJS

Einblicke in die berufliche Zukunft

Was habt ihr in eurer Zeit bei der Phodio gelernt, was ihr in der Schule sonst nicht mitbekommen hättet?

HD: Als ich in der 9. Klasse hier angefangen habe, hat es mir ein Gefühl der Unsicherheit gegeben, weil jeder Fehler direkte Konsequenzen hatte und klar wahrnehmbar war. Wenn die Boxen knacken oder übersteuern, kann man das nicht verbergen. Das hat sich aber schnell gewandelt. Die Unsicherheit wurde zur Motivation, alles richtig zu machen, zumindest aber zu verstehen, wo der Fehler jeweils lag. So lernt man, damit umzugehen. Ich habe auch gelernt, mit Leuten in Kontakt zu treten. Ich will später mal in einer größeren Firma wie Siemens oder VW als Wirtschaftsingenieur arbeiten. Dieser Job verbindet Wirtschafts- und Ingenieurswesen. Das hier ist ein Einblick, was mal auf mich zukommen könnte. Es geht in der Schüler:innenfirma um technische Aspekte, Kundenkontakt, aber auch finanzielle Entscheidung. Auch, dass ich irgendwann Abteilungsleiter bei der Phodio wurde, hätte ich mir so vorher nicht zugetraut – einfach, weil ich es noch nie gemacht hatte.

TH: Ich habe in erster Linie das selbstorganisierte Planen gelernt, insbesondere bei Veranstaltungen außerhalb der Schule. Bei mir kommt die Unterrichtskompetenz dazu. Ich habe anderen Menschen schon mal etwas beigebracht. Gemeinsam mit einem Kollegen habe ich auch den Lehrplan für die Technikabteilung erstellt. All das hilft mir jetzt im Lehramtsstudium. Aber auch Dinge, die eher in Richtung Persönlichkeitsentwicklung gehen, habe ich hier gelernt. Wie mache ich eine Ansage, wie gehe ich mit Kritik um? Das gehört auch dazu, gerade bei uns in der Technikabteilung. Dort sind Fehler fatal. Gleichzeitig läuft bei uns vieles live. Da passieren Fehler zwangsläufig. Es gehört dazu, diese zu benennen Und einen Umgang damit zu finden.

© Jörg Farys / DKJS

Aus gemeinsamen Projekten werden bleibende Erinnerungen

Was waren besondere Momente, von denen ihr sagt: Daran werde ich mich auch in Jahren noch erinnern?

HD: Bei uns in der Abteilung gibt es eine Tradition, die von Generation zu Generation weitergegeben wird: das Aufstellen eines Mikrofons auf Zeit. Tilman hält mit 14 Sekunden bis heute den Rekord. Schön ist, dass man in der Schüler:innnenfirma gemeinsam eine Zeit erlebt, die sich zwar nicht nach Unterreicht anfühlt, in der man aber eine Menge lernt. Solche Traditionen bleiben dann hängen. Gleiches gilt für die externen Veranstaltungen.

TH: Wenn etwa eine Band ankommt, die Dinge wollen, die man vorher noch nie gemacht hat. In dem Moment musst du dann zum Beispiel schnell rauskriegen, wie man eine Feedbackbox anschließt. Was mich bis heute begleitet, sind die Freundschaften, die hier entstanden sind. Es schweißt nochmal auf einer anderen Ebene zusammen, wenn man als Team so funktionieren muss wie hier . Ich erinnere mich auch noch an den ersten Einsatz, den ich gemeinsam mit dir, Hannes, gemacht habe. Das war ein Fest der örtlichen Volksbank. Oder als wir durch eine Spende neue Technik kaufen konnten…

HD: …Und dann bis abends um 20 Uhr in der Schule saßen, um sie auszuprobieren.

TH: Genau. Sich da reinzufuchsen, hat unglaublich viel Spaß gemacht. Am nächsten Tag konnten wir die Technik dann direkt bei einem Konzert anwenden.

© Jörg Farys / DKJS

Ideal einer Schüler:innenfirma

Marcel Krumbholz, DKJS-Berater, kennt Phodio seit 2020. Er hat dem Gespräch bis hierhin zugehört, immer mal wieder genickt, wenn Tilman und Hannes über ihre Erfahrungen gesprochen haben. Zeit, ihn mit ins Gespräch zu holen. Wie nimmt er die Phodio wahr?

Marcel Krumbholz (DKJS): Der Ansatz, dass ihr untereinander das Wissen weitergebt und gemeinsam nach guten Lösungen für Herausforderungen sucht, ist für mich das Ideal einer Schüler:innenfirma, ein interaktiver Bildungsprozess. Das wird auch die Mitarbeiter:innen von morgen ausmachen. Wir brauchen in unserer modernen, digitalen Gesellschaft Leute, die Lösungen für komplexe Probleme finden können – und das in Teams mit Menschen, die ganz anders sind als man selbst. Als ich vor zwei Jahren das erste Mal hier war, hattet ihr auch erwähnt, dass ihr in die Notenvergabe involviert seid. Das hätte ich mir zu meiner Schulzeit auch gewünscht. Dass wir Schüler:innen mit einbezogen werden, wenn es um Bewertungskriterien geht.

TH: Wir dürfen nicht im klassischen Sinne Noten vergeben, weil wir keine Lehrkräfte sind. Aber diejenigen, die länger dabei sind oder eine Leitungsfunktion haben, entwerfen Tests, um den Wissensstand abzufragen. Die Auswertung der Tests und die Notenvergabe liegt bei den Lehrerinnen und Lehrern. Aber es findet ein Austausch statt und der Impuls dafür, was relevanter Stoff ist, kommt von uns.

Inwieweit hilft dir, Tilman, deine Erfahrungen hier in der Schüler:innenfirma bei deinem Lehramtsstudium?

TH: Im Lehramtsstudium geht es auch um Entwicklungspsychologie. Ganz wichtig für die Persönlichkeitsentwicklung ist es, Selbstwirksamkeit zu erleben. Zu erfahren, dass Taten Konsequenzen haben. Aber eben nicht nur negative. Wenn man merkt, dass eine Veranstaltung gut läuft, alles funktioniert, dann ist das eine tolle Erfahrung. Man merkt, dass man etwas bewirkt mit seinem Handeln. Dass man Resultate sieht – und eben nicht nur als Note auf dem Papier – ist cool.

© Jörg Farys / DKJS

Synergieeffekte unterschiedlicher Abteilungen nutzen

Vieles von dem, was ihr erzählt, klingt autark, auf Augenhöhe. Welche Rolle spielt die Lehrkraft in so einer Schüler:innenfirma?

HD: Bei uns ist sie die Person, die man immer ansprechen kann. Jede Abteilung hat ihre Lieblingsräume. Für uns ist das die Aula, weil dort die Technik ist. Der Lehrer kann natürlich nicht überall gleichzeitig sein. Aber wir haben eine Gruppe über einen Messenger-Dienst, in der Termine koordiniert und Dinge abgesprochen werden.

Wie arbeiten die einzelnen Abteilungen zusammen?

TH: Bei Veranstaltungen muss man ganz natürlich zusammenarbeiten. Wenn etwa die Videoabteilung eine Einschulung filmt, nehmen wir den Ton mit auf und geben den später für den Schnitt an die Videoleute. Auch die Organisation ist zentral gesteuert. Die Finanzierung kommt aus einem Pott.

Gehen wir mal ein paar Kompetenzen durch, die ihr womöglich in eurer Arbeit bei der Schüler:innenfirma gelernt habt. Wann war eure Kreativität gefordert?

TH: Als Technikabteilung sind wir nicht gerade für die kreative Arbeit zuständig, das liegt dann eher bei Print, Foto oder Video. Aber wir haben in unserer Abteilung Vieles neu gedacht. Mit dem Einzug der neuen Technik haben wir den gesamten Aufbau verändert, neue Kabel durch die Decken gezogen. Kreativer Umgang mit begrenzten Ressourcen, das Beste aus dem machen, was man hat – da ist auch Kreativität gefragt.

Wie sieht es mit dem Thema Nachhaltigkeit aus?

TH: Wir als Technikabteilung versuchen, mit unserem Equipment möglichst lange auszukommen. Dazu gehört auch, dass man etwa Kabel repariert.

HD: Im Videoteam werden Kameras geliehen, statt sie neu zu kaufen.

Wie sieht es mit Kooperationen zu örtlichen Unternehmen aus?

HD: Die neue Technik, die wir haben, hat uns ein Veranstalter gegeben. Als Ausgleich bekommt er an zwei Tagen im Jahr unsere Aula. Wir kooperieren auch mit der örtlichen Musikschule, die in Teilen unsere Technik benutzt.

TH: Bei der Salzgitter AG waren wir als Schüler:innenfirma Gäste bei der Jahreshauptversammlung. Das war echt interessant, so etwas mal zu sehen.

Zu Beginn des Gesprächs herrschte im Gebäude noch reges Treiben. Am Ende sind die meisten der 431 Schüler:innen längst zu Hause, die Schule ist jetzt so friedlich wie die Stadt um sie herum.